Der Andere (I)
Es ist den Umständen geschuldet, dass ich mehr Zeit als mir lieb ist mit diesem Menschen verbringen muss. Ich versuche, so gut es geht, den Kontakt mit ihm zu vermeiden. Lasse mir alles Mögliche einfallen, um beschäftigt zu wirken und Annäherungsversuche abzuwehren. Ich koche, presse gesunde Säfte, probiere mein neues geniales digitales Schreibgerät aus, schreibe sinnlose Texte, bastele meinen digitalen Advents-Kalender, schau alle paar Minuten nach, was es Neues auf der Welt gibt, überprüfe regelmäßig, ob sich irgendwer für das interessiert hat, was ich in die virtuelle Welt hinausgeblasen habe. Und trotzdem werde ich das unangenehme Gefühl nicht los, dass er da ist. Dass er mich beobachtet, auf eine Gelegenheit lauert, mich anzusprechen. Ich fürchte den Moment, in dem er mich vielleicht ganz unschuldig fragt, wie es mir geht. Und ich weiß schon jetzt, dass er sich irgendwann mit meiner seit vielen Jahren antrainierten Standardantwort „Passt scho“ nicht mehr zufrieden geben wird. Dieser Tage hat er mal gemeint, dass wir es uns jetzt, da die Kontakte mit der Außenwelt so eingeschränkt sind, doch mal richtig gemütlich machen könnten miteinander. Mir ist aber nicht nach Gemütlichkeit! Und ich durchwühle meine Musiksammlung nach den Weihnachtsliedern der Toten Hosen. Ach ja – Weihnachten. Ich weiß aus all den Jahren, dass er an diesen Tagen dazu neigt, mich mit seinen Sentimentalitäten zu überfallen. Und mir ist auch bewusst, dass ich immer wieder darauf reinfalle. Stockholm-Syndrom. Dieses Jahr wird vermutlich wirklich alles anders als sonst. Die üblichen Rituale entfallen und es sieht tatsächlich so aus, als müsste ich mehr Zeit mit ihm verbringen als sonst immer. Ob es gemütlich wird, weiß ich noch nicht. Auch nicht, ob es mir leichter fällt zu akzeptieren, dass er ein Teil von mir ist oder ich ein Teil von ihm bin oder wir am Ende gar eins sind… |