Miracle Gaudi
Heinz hat genug von Hygge. Und auch von Lagom. Und jetzt kommt aus Finnland auch noch Sisu.
Karin, die Gattin von Heinz, hatte vor zwei Jahren alles getan, um ihr Zuhause hyggelig zu machen. Allein die Kerzenvorräte, die sie sich in der Zeit der Hygge-Pandemie zugelegt hat, reichten aus, um Mme. Tussauds Wachsfigurenkabinett zweimal nachzubauen. Kuschelige Wohnaccessoires verbauten Heinz den gewohnten schnellen Weg zum Kühlschrank, der zudem mit Hygge-Heringen und Konfitüren so gefüllt war, dass es größerer Umbaumaßnahmen bedurfte, bis Heinz an sein Bier im hintersten Eck des Kühlgeräts gelangte. Warum auf den Flaschen neuerdings VonFreude Hygge stand und nicht mehr Edelstoff , war ihm ein Rätsel. Besonders an heißen Sommertagen war die winterliche Anmutung des Craftbeers mit Aromen von Kaminfeuer und Bratäpfeln zumindest sonderbar. Auch warum er den Weg dorthin ausschließlich in gefilzten Wollpantoffeln gehen durfte, konnte ihm Karin nicht wirklich erklären.
Heinz schöpfte Hoffnung, als er eines Tages in seinem Autoradio auf dem Weg in die Firma in einem Radiofeature hörte, dass der Hygge-Boom ganz langsam abebben würde. Vielleicht würde er schon bald wieder seinen gewohnten Tannenduftbaum an den Rückspiegel hängen können anstelle des Teebeutels aus Wolle vom dänischen Merinoschaf. Zu denken gab ihm lediglich die Ankündigung eines neuen Trends, der diesmal aus Schweden kommen sollte.
Lagom. Der uralte schwedische Weg zu Balance, Ausgeglichen- und Gelassenheit. Der Weg des gesunden Mittelmaßes. Nicht zu viel und nicht zu wenig von allem. Und Heinz war zunächst erleichtert, als Karin nach der Lektüre ihres ersten Lagom-Ratgebers feststellte, man sollte sich von der Hälfte des Hygge-Krams trennen. Und die andere Hälfte könne auch bald weg – sobald passende Lagom-Produkte auf dem Markt sein würden. Von da an gehörte ein wöchentlicher Besuch in einem schwedischen Möbelhaus zum Pflichtprogramm. Heinz brachte vergeblich vor, dass er einmal im Monat für ein gesundes Mittelmaß halten würde.
Seine zunächst wohlwollend abwartende Haltung gegenüber Lagom änderte sich an dem Abend, an dem Karin zum Abendmahl einen mäßig gefüllten Teller mit merkwürdigen Halbkugeln servierte: Lagom-Bullar. Nach dem Geschmack von Heinz nicht Fisch, nicht Fleisch. Von da ab wusste er, dass auch Lagom nichts Gutes für das Bier im Kühlschrank bedeuten konnte.
Heinz musste sich eine Strategie überlegen, diesem Gelassenheitsterror zu entkommen. In dieser Nacht gaben sich Karin und Heinz dem Liebesspiel hin. Seit das ganze Hygge-Kuschelzeug aus ihrem Bett entfernt worden war, war wieder mehr Raum für Lust und Verlangen. Und gerade heute schien es so, als könnten sie anknüpfen an die Anfänge ihres Zusammenseins, als sie sich mit unbändiger Gier aufeinander stürzten und sich gegenseitig ein Höchstmaß an Erregung verschafften. Aber noch bevor sie an diesem Punkt angelangten, von dem aus eine Rückkehr in ein normales Leben nicht mehr möglich sein würde, ließ Heinz ab von Karin und drehte sich zur Seite. „Was ist das?“ schrie Karin. „Lagom, mein Schatz“ sagte Heinz „Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel!“
Seit dieser Nacht schien Karin geheilt, so dass sogar der neue Trend aus Finnland „Sisu“ versprach an ihnen vorüber zu gehen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass finnische Möbelhäuser so dünn gesät sind.
Heute Morgen hat Karin Heinz eine Stunde früher als sonst geweckt. „Miracle Morning!“ flötete sie glücklich. „Was zum Teufel ist Miracle Morning?“ stammelte Heinz schlaftrunken. Karin hatte in den Tagen scheinbaren Friedens ein neues Buch aus Amerika gelesen: man steht eine Stunde früher auf und tut mehr oder weniger – nichts. Man sammelt quasi das ansonsten über den Tag verteilte Nichtstun, arbeitet es in der Morgenstunde ab und hat so den ganzen Tag in vollem Umfang zur Verfügung, sich der Selbstoptimierung zu widmen.
Als Heinz sich nach dieser Stunde endlich mit seiner gewohnten Tasse Kaffee an den Küchentisch setzte, fiel sein Blick auf ein neues, noch in Folie verpacktes Buch: „Gaudi – der bayrische Weg zur Ausgelassenheit“ und die Vorstellung von einem mit Edelstoff gefüllten Kühlschrank machte ihn für einen Augenblick glücklich. Hätte er nur nicht den Umschlagtext gelesen: „Yoga-ähnliche Atemübungen, die tief in der bayrischen Kultur verankert sind, werden Ihr Leben für immer verändern. Die Übung ‚Auszutzeln einer gehäuteten Weißwurst‘ wird Ihr täglicher Begleiter werden.“
Heinz hat genug von Hygge. Und auch von Lagom. Und jetzt kommt aus Finnland auch noch Sisu.
Karin, die Gattin von Heinz, hatte vor zwei Jahren alles getan, um ihr Zuhause hyggelig zu machen. Allein die Kerzenvorräte, die sie sich in der Zeit der Hygge-Pandemie zugelegt hat, reichten aus, um Mme. Tussauds Wachsfigurenkabinett zweimal nachzubauen. Kuschelige Wohnaccessoires verbauten Heinz den gewohnten schnellen Weg zum Kühlschrank, der zudem mit Hygge-Heringen und Konfitüren so gefüllt war, dass es größerer Umbaumaßnahmen bedurfte, bis Heinz an sein Bier im hintersten Eck des Kühlgeräts gelangte. Warum auf den Flaschen neuerdings VonFreude Hygge stand und nicht mehr Edelstoff , war ihm ein Rätsel. Besonders an heißen Sommertagen war die winterliche Anmutung des Craftbeers mit Aromen von Kaminfeuer und Bratäpfeln zumindest sonderbar. Auch warum er den Weg dorthin ausschließlich in gefilzten Wollpantoffeln gehen durfte, konnte ihm Karin nicht wirklich erklären.
Heinz schöpfte Hoffnung, als er eines Tages in seinem Autoradio auf dem Weg in die Firma in einem Radiofeature hörte, dass der Hygge-Boom ganz langsam abebben würde. Vielleicht würde er schon bald wieder seinen gewohnten Tannenduftbaum an den Rückspiegel hängen können anstelle des Teebeutels aus Wolle vom dänischen Merinoschaf. Zu denken gab ihm lediglich die Ankündigung eines neuen Trends, der diesmal aus Schweden kommen sollte.
Lagom. Der uralte schwedische Weg zu Balance, Ausgeglichen- und Gelassenheit. Der Weg des gesunden Mittelmaßes. Nicht zu viel und nicht zu wenig von allem. Und Heinz war zunächst erleichtert, als Karin nach der Lektüre ihres ersten Lagom-Ratgebers feststellte, man sollte sich von der Hälfte des Hygge-Krams trennen. Und die andere Hälfte könne auch bald weg – sobald passende Lagom-Produkte auf dem Markt sein würden. Von da an gehörte ein wöchentlicher Besuch in einem schwedischen Möbelhaus zum Pflichtprogramm. Heinz brachte vergeblich vor, dass er einmal im Monat für ein gesundes Mittelmaß halten würde.
Seine zunächst wohlwollend abwartende Haltung gegenüber Lagom änderte sich an dem Abend, an dem Karin zum Abendmahl einen mäßig gefüllten Teller mit merkwürdigen Halbkugeln servierte: Lagom-Bullar. Nach dem Geschmack von Heinz nicht Fisch, nicht Fleisch. Von da ab wusste er, dass auch Lagom nichts Gutes für das Bier im Kühlschrank bedeuten konnte.
Heinz musste sich eine Strategie überlegen, diesem Gelassenheitsterror zu entkommen. In dieser Nacht gaben sich Karin und Heinz dem Liebesspiel hin. Seit das ganze Hygge-Kuschelzeug aus ihrem Bett entfernt worden war, war wieder mehr Raum für Lust und Verlangen. Und gerade heute schien es so, als könnten sie anknüpfen an die Anfänge ihres Zusammenseins, als sie sich mit unbändiger Gier aufeinander stürzten und sich gegenseitig ein Höchstmaß an Erregung verschafften. Aber noch bevor sie an diesem Punkt angelangten, von dem aus eine Rückkehr in ein normales Leben nicht mehr möglich sein würde, ließ Heinz ab von Karin und drehte sich zur Seite. „Was ist das?“ schrie Karin. „Lagom, mein Schatz“ sagte Heinz „Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel!“
Seit dieser Nacht schien Karin geheilt, so dass sogar der neue Trend aus Finnland „Sisu“ versprach an ihnen vorüber zu gehen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass finnische Möbelhäuser so dünn gesät sind.
Heute Morgen hat Karin Heinz eine Stunde früher als sonst geweckt. „Miracle Morning!“ flötete sie glücklich. „Was zum Teufel ist Miracle Morning?“ stammelte Heinz schlaftrunken. Karin hatte in den Tagen scheinbaren Friedens ein neues Buch aus Amerika gelesen: man steht eine Stunde früher auf und tut mehr oder weniger – nichts. Man sammelt quasi das ansonsten über den Tag verteilte Nichtstun, arbeitet es in der Morgenstunde ab und hat so den ganzen Tag in vollem Umfang zur Verfügung, sich der Selbstoptimierung zu widmen.
Als Heinz sich nach dieser Stunde endlich mit seiner gewohnten Tasse Kaffee an den Küchentisch setzte, fiel sein Blick auf ein neues, noch in Folie verpacktes Buch: „Gaudi – der bayrische Weg zur Ausgelassenheit“ und die Vorstellung von einem mit Edelstoff gefüllten Kühlschrank machte ihn für einen Augenblick glücklich. Hätte er nur nicht den Umschlagtext gelesen: „Yoga-ähnliche Atemübungen, die tief in der bayrischen Kultur verankert sind, werden Ihr Leben für immer verändern. Die Übung ‚Auszutzeln einer gehäuteten Weißwurst‘ wird Ihr täglicher Begleiter werden.“