Gulasch
Svenja zum Essen einzuladen war in all den Jahren eine meiner größten Freuden gewesen. Ich war kein guter Koch und meistens gab es Gulasch oder irgendwas Geschnetzeltes, das schnell zuzubereiten war. Und eigentlich waren die Mahlzeiten auch nur die Nebensache und der Vorwand für unsere Begegnungen. Wir haben es nie ausgesprochen und es musste immer so aussehen wie ein Zufall, dass wir uns noch während des Essens berührten und übereinander herfielen, um erst nach Stunden die dann schon kalten Reste vom Teller zu gabeln. So fad und einfallslos die Speisen waren, so heiß, phantasievoll und eindringlich war unser Zusammensein. Am letzten Freitag im Juli sollte es einer dieser zauberhaften Abende werden. Ich hatte Gulasch gekocht und mir diesmal besonders Mühe gegeben. Ich hatte schon am frühen Morgen begonnen alles Nötige vorzubereiten. Fleisch in Würfel und Paprika in Streifen geschnitten, Tomaten enthäutet und unter Tränen Zwiebel zerkleinert. Es war mehr Arbeit als sonst, weil ich den irrwitzigen Gedanken gehabt hatte, eine Menge zuzubereiten, die auch für ein ganzes Wochenende ausreichen würde. Schließlich hatte ich Svenja schon seit über einen Monat nicht mehr gesehen. Klar würde es dafür eine neue stillschweigende Vereinbarung brauchen. Svenja saß auf dem Platz, auf dem sie immer gesessen hatte, nippte an ihrem Weinglas und ihre Blicke folgten mir unaufhörlich. Ich setzte den Gulaschtopf auf der hölzernen Unterlage ab, setzte mich ihr gegenüber, nahm mit aller mir in diesem Moment zur Verfügung stehenden Eleganz den Topfdeckel ab und legte ihn beiseite. Svenja setzte ihre Ellenbogen auf den Tisch auf, faltete die Hände um darauf ihr Kinn abzulegen. Ihre Augen streiften abwechselnd den Inhalt des Topfes und eine nicht näher zu definierende Stelle in meinem Gesicht. „Was ist das?“ „Gulasch. Gemischtes Gulasch. Vermutlich das Beste, das ich je gemacht habe.“ Svenja ließ einen Seufzer hören. Ich glaubte, ein leichtes Kopfschütteln zu bemerken. Ein kurzer Blick zur Zimmerdecke, dann ließ sie ihre Arme fallen und wurde etwas kleiner auf ihrem Stuhl. Den Blick zu Boden gesenkt sagte sie kaum hörbar: „Du kriegst wieder mal gar nichts mit!“ Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Sie hatte somit wohl Recht, dass ich nichts mitbekommen habe. Aber wovon? Nur ihr „wieder“ gab mir zu denken, signalisierte es doch, dass ich schon häufiger nichts mitbekommen habe oder das gar ein prägendes Persönlichkeitsmerkmal von mir wäre. Meine Gefühle begannen eine Achterbahnfahrt – oben die Neugier auf das, was sie wohl zu sagen hätte, unten der Ärger über die aus meiner Sicht sicher ungerechtfertigten Vorwürfe. Ich lasse mir ungern etwas vorwerfen und mich noch weniger gern bei etwas Dummem erwischen. Innerlich begann ich mich von der euphorischen Vorstellung an ein Wochenende zu verabschieden und begann mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass es schon ein Erfolg wäre, diesen Abend unbeschadet zu überstehen. Ich spürte, wie mein Kinn den Gesetzen der Schwerkraft folgte, meine Augen die ihren suchten und brachte kein Wort heraus. Jetzt nur nicht stammeln. Mein Hirn schlug mir eine ganze Reihe von passenden und unpassenden Sätzen und Fragen vor, aber ein Höflichkeitsfilter verhinderte, dass sie einen Weg bis zu den Stimmbändern fanden. Svenja musste mein Leiden bemerken. Ihre Stimme wurde nun fester, nachdrücklicher und sie schleuderte, den Blick an mir vorbei durch das Fenster in die Unendlichkeit gerichtet, Sätze in den Raum: „Du bist so, so, so unsensibel. Ignorant. Du checkst überhaupt nichts. Nichts!“ In Gedanken ergriff ich sanft mit meinen beiden Händen eine der ihren, blickte ihr zärtlich in ihre Augen und fragte: „Magst Du mir erzählen, was passiert ist?“ Stattdessen wischte ich den Topfdeckel beiseite und rief erschüttert: „Geht’s noch?“ Svenja war jetzt den Tränen nahe und schluchzte: „Ich lebe seit Wochen vegan. Und Du, Du setzt mir hier ein Gulasch vor!“ Vegan! Svenja! Vegan! Jetzt hat es sie also auch erwischt! Ab jetzt heißt es, vorsichtig zu sein. Ich hatte in diesem Moment nicht die geringste Lust, mich auf Diskussionen über Ernährungsweisen, Tierrechte, Klimawandel, Volksgesundheit oder Aspekte der Wiedergeburt einzulassen. Wichtig war jetzt nur, den Abend insoweit zu retten, dass unser zur lieben Gewohnheit gewordenes Ritual noch eine Chance hat zu seinem Recht zu kommen. „Ich habe ja diesmal Reis als Beilage gemacht und könnte für Dich einen wunderbaren Milchreis draus zu machen“ versuchte ich die Wogen zu glätten. „Was an dem Wort vegan verstehst Du nicht?“ kreischte Svenja. Gute Frage. Ich musste nachdenken. „Vegan leben, mein Lieber,“ nutze Svenja die Denkpause „vegan leben, bedeutet auf alles zu verzichten, was den Tieren Leid zufügt. Das heißt, keine Teile von Tieren zu essen und keine Produkte, die durch Ausbeutung der Tiere hergestellt werden.“ „Gar nichts tierisches?“ „Gar nichts tierisches!“ „Kein tierischer Sex?“ Svenja schnaubte: „Du bist so zurückgeblieben!“ Sie sprang auf. Der Stuhl kippte mit einem lauten Scheppern nach hinten. Svenja lief zur Garderobe, zog sich ihre Lederjacke an, riss die Tür auf und rief, ohne sich noch einmal umzudrehen „Melde Dich wieder, wenn Du erwachsen geworden bist.“ Und weg. Irgendetwas stimmte nicht und ich grübelte darüber nach, ob sie wohl ganz ehrlich mit mir gewesen war, während ich ohne groß nachzudenken in mein Gulasch starrte. Mag sein, dass es der wundervolle Geruch von Fleisch war, der das auslöste, aber wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf, holte mein Smartphone und wählte die mir so vertraute Nummer. Sie ließ es nicht lange anläuten und mit meiner besten Verführerstimme säuselte ich: „Hallo Waltraud, mein Schatz. Hast Du gerade Lust auf ein spontanes Gulasch?“ |